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Carsten Roth
Der Bildraum - unendliche Weiten auf begrenzten Medien Rede zur Eröffnung
der Ausstellung Sven Piayda - "s h o w / t i m e" Kunstverein Bochumer
Kulturrat 19. Juli 2014 - 15. August 2014
Es ist das Phänomen der "Wahrnehmung", das Sven Piayda in seiner künstlerischen
Arbeit konzeptionell umsetzt. Er fordert zum aufmerksamen Sehen heraus, denn mit
jedem Bild stellt er die Frage, ob der abgebildeten Realität zu trauen ist, respektive
ob die abgebildete Realität überhaupt eine "reale Realität" ist oder nicht vielmehr
eine fiktive Realität, eine Scheinrealität, also ein Paradoxon. Ein Paradoxon
ist eine Aussage, die scheinbar oder tatsächlich einen unauflösbaren Widerspruch
enthält.
Ich will dies an zwei Beispielen deutlich machen, die in unserem großen Kellerraum
ausgestellt sind. Es handelt sich um urbane Landschaftsbilder, die hinsichtlich
ihrer vermeintlichen Realität irritieren. Diese 2010 entstandenen Fotografien
sind als Dichotomien, als komplementäres Begriffspaar pendanthaft aufeinander
bezogen, nämlich "Dormancy", eine mit dem englischen Begriff für "Schlaf- oder
Ruhezustand" betitelte Taglandschaft mit Nachthimmel, und "Insomnia" (= Schlaflosigkeit),
eine Nachtlandschaft mit Taghimmel. Durch solche am Computer generierten Vereinbarungen
des eigentlich Unvereinbaren - einem Bauprinzip des Surrealismus - kreierte Piayda
überwirkliche Welten, deren irreale Beleuchtung an den Magischen Realismus der
1920er-Jahre, namentlich an die Gemälde von Franz Radziwill erinnert, der mit
quasi "falschem" Licht verstörende, geheimnis- und unheilvolle Stimmungen erzielte.
Wenn ich den kunsthistorischen Zeitstrahl noch weiter zurückverfolge, so greift
Piayda nicht zuletzt auf die Ästhetik des "Chiaroscuro", also die "Hell-Dunkel-Malerei"
der Spätrenaissance und des Barocks zurück, bei der starke Kontraste eine Steigerung
des räumlichen Empfindens und des dramatischen Ausdrucks bedingen. Bei "Insomnia",
der Nachtlandschaft mit Taghimmel, wird deutlich, wie Piayda Bilder als Aufforderung
zum genauen Hinsehen anlegt. Im Sinne einer Überprüfung eingefahrener Sehmuster
gibt er Impulse, sich etwa darüber Gedanken zu machen, warum die Straßenlaterne
schon leuchtet oder warum sie noch leuchtet. Dies führt zur Auseinandersetzung
mit den Gesetzmäßigkeiten von Licht und Schatten und mit dem Verhältnis von Lichtquelle
zu erhelltem Gegenstand, über die sich bereits Leonardo da Vinci Gedanken machte,
als er zwischen "luce" für das anstrahlende Licht und "lumen" für das vom Beleuchteten
ausgehende Licht sowie zwischen natürlichem und künstlichem Licht unterschied.
Und als letzte Bemerkung zu diesen beiden Bildern: Wenn ich von Vereinbarungen
des eigentlich Unvereinbaren als surrealem Bauprinzip sprach, so intendiert Sven
Piayda ausdrücklich keinen Surrealismus, wie wir ihn etwa mit Salvador Dalí verbinden;
sondern die überwirkliche Atmosphäre von "Dormancy" und "Insomnia" ist ein rein
zufälliges ästhetisches Nebenprodukt seiner Absicht, das Phänomen der Zeit darzustellen,
indem er in jeweils einem Bild Tag und Nacht als zwei divergierende Zeitspannen
vereinte.
Um Zeit, um deutlich mehr Zeit, geht es auch in der Fotoserie "Past Present Future"
(2013) im großen Galerieraum im Erdgeschoss. Der Titel sagt es: Sven Piayda thematisiert
hier einen Ausschnitt aus dem als "Normalraum" bezeichneten Gesamtgefüge aus drei
räumlichen und einer zeitlichen Dimension, das die Grundstruktur des Universums
bildet und in dem sich sämtliche natürlichen Himmelskörper befinden. Dieses "Raum-Zeit-Kontinuum"
umfasst alle Ereignisse der Vergangenheit bis zu diesem Augenblick, jene der Gegenwart,
respektive dieses jetzigen Augenblicks, sowie jene der Zukunft ab diesem Augenblick.
Die drei aufeinander bezogenen Bilder zeigen links als Vergangenheit einen computergenerierten
Planeten, stellvertretend für jeden anderen der "unendlichen Weiten" des Weltraums
und der "Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat". Wenn solche Bilder die
Erde erreichen, sind sie aufgrund der zurückgelegten Zeit bereits Vergangenheit.
Das mittlere Bild, das für die Gegenwart steht, zeigt eine zwar fiktive Mondlandschaft,
jedoch spielt der Titel "Vallis Baade" auf ein reales, sich über 200 Kilometer
erstreckendes Mondtal an, das nach dem deutschen Astronomen Walter Baade benannt
ist. Für den rechten Seitenflügel, wenn man die Serie als Triptychon begreift,
wählte Sven Piayda zur Thematisierung der Zukunft eine Darstellung der "Voyager
1", jener 1977 gestarteten NASA-Raumsonde zur Erforschung des äußeren Planetensystems
und des interstellaren Raums, den sie nach ihren Reisezielen Jupiter und Saturn
2012 als erstes von Menschen erzeugtes Objekt erreichte. Piaydas Trilogie ist
nicht nur eine Reflexion über das "Raum-Zeit-Kontinuum", sondern auch ein Anstoß,
über die Abbildbarkeit abstrakter Begriffe wie Zeit, Raum, Zeitraum, Nähe und
Ferne nachzudenken.
An der anderen Wand des Raumes hängt die Fotografie "Golden Record" (2014), die
mit der Serie "Past Present Future" in engem thematischen Zusammenhang steht.
Zur Mission der "Voyager 1" und ihrer im gleichen Jahr gestarteten Schwestersonde
"Voyager 2" gehört das Versenden interstellarer Post an jene, die im Vorspann
von "Raumschiff Enterprise" als für uns Erdlinge "neues Leben und neue Zivilisationen"
bezeichnet werden. Beiden Raumsonden wurde nämlich eine "Voyager Golden Record"
mitgegeben, eine 30 Zentimeter durchmessende vergoldete Datenplatte aus Kupfer
mit Bild- und Audioinformationen als Botschaften für außerirdische Lebensformen,
die auf diese Weise Informationen über die Existenz der Menschheit und ihre Position
im Universum erhalten sollen. Die Scheibe steckt in einer Art Cover mit einer
Anleitung, wie man sie decodieren kann. In einer Aluminiumschutzhülle ist auch
eine Abspielnadel beigefügt. Die Golden Record enthält zum einen 115 analog gespeicherte
Bilder; sie stammen aus den Themenbereichen Universum, Mathematik, Physik, Chemie,
Biologie, Geologie, Anthropologie, Ethnologie, Landwirtschaft und Sport. Klingt
wie ein Stundenplan für die Oberstufe. Kunst - und das sollte uns zu denken geben
- wird in diesem Fernkurs nicht unterrichtet. Ansonsten enthält das Medium Audiodaten:
Grußworte in 55 Sprachen, Botschaften von Jimmy Carter und Kurt Waldheim sowie
einen 90-minütigen Musik-Sampler: Bach, Mozart, Beethoven, Strawinsky, Louis Armstrong,
Chuck Berry, aserbaidschanische Sackpfeifen und manches mehr. Außerdem gibt es
19 irdische Geräusche zu hören, darunter so "repräsentativ" Irdisches wie das
Gurgeln von Schlammblasen und die Serenade einer paarungsbereiten männlichen Grille.
Mit dieser
nur angerissenen Beschreibung der "Voyager Golden Record" möchte ich verdeutlichen,
was Sven Piayda in seinem konzeptionellen Bilderschaffen auf vielfältige Weise
als Leitmotiv thematisiert: die Begrenztheit des Mediums. Seine Fotografie "Golden
Record" ist ein im Netz frei verfügbares Bild und es ist daher nicht als eigenständiges
Werk zu verstehen, sondern vielmehr als medienreflexives Programmbild. Er arbeitet
also nicht - wie meist üblich - rein motivisch oder dokumentarisch, sondern thematisiert
stets über das Medium dessen Gesetzmäßigkeiten, Möglichkeiten, Kapitulationen.
Diese beginnen bei der originalen "goldenen Schallplatte" schon mit der außerirdischen
Decodierung der beigefügten Gebrauchsanweisung, denn diese ist selbst wieder ein
Medium, das ja bei jedem inneridischen Möbelaufbau bereits unlösbare Verständnisprobleme
aufwirft. Die Begrenztheit des Mediums zeigt sich vor allem aber auch in der Speicherkapazität.
Da stellt sich zunächst die Frage, wie man überhaupt mit Außerirdischen kommuniziert,
die gerade keinen Plattenspieler zur Hand haben, der in der Lage ist, die optimalen
16-2/3 Umdrehungen pro Minute zu erreichen. Weiterhin wäre zu klären, welche Informationen
über die Menschheit denn nun eigentlich auf diese Voyager-Scheibe gehören. Ob
der übermittelte Kuss, rein klanglich betrachtet, bei den Außerirdischen zu nennenswertem
Erkenntnisgewinn führt? "Die NASA", so lernte ich durch das komplette Voyager-Geräuschinventar
- und das zitiere ich gern aus Wikipedia -, "erteilte den strengen Auftrag, den
Kuss absolut heterosexuell zu gestalten. Es wurden verschiedene Varianten ausprobiert,
um einen glaubwürdigen Kuss zu produzieren. Am Ende wurde ein sanfter Wangenkuss
ausgewählt". Und so wurde nicht nur vielfach kritisiert, dass sich das Phänomen
Menschheit nicht auf einen derartig geringen Informationsgehalt reduzieren lässt,
sondern auch die teilweise unsinnige Auswahl der Informationen bemängelt, denn
im Grunde ist ja nicht viel mehr herausgekommen als ein Werbeflyer für einen Urlaub
auf der Erde. So kritisierte etwa der Biologe Heinrich Karl Erben, hier würde
ein verzerrtes Bild der Menschheit übermittelt. Bereits unsere erste Nachricht
hinaus ins All sei eine Lüge, solange nicht auch Bilder von hungernden Kindern
oder Hinweise auf die kriegerische Geschichte des Planeten mitgeschickt würden.
Alle von mir hier vermittelten Informationen über die "Voyager Golden Record"
sind der Fotografie dieser Platte nicht anzusehen. Und so ist die Begrenztheit
des Mediums in diesem Fall gleich doppelt thematisiert, nämlich zum einen durch
den dargestellten Gegenstand, zum anderen durch eine Frage, die Sven Piayda sich
kontinuierlich stellt: Wieviel bekommt der Betrachter durch reine Anschauung eines
Kunstwerks eigentlich von dessen Intentionen und Inhalt mit?
Zur Demonstration des Kernthemas von der Begrenztheit des Mediums greife ich noch
ein anderes Beispiel heraus: Piaydas dreiteilige Fotoserie "The Impossibility
To Take Pictures Of The Sea" (2014). An der Darstellung des Meeres bei Ruhe und
Sturm haben sich schon zahllose Marinemaler und Fotografen abgearbeitet, jedoch
kann der Komplexität der Natur selbstverständlich kein Medium gerecht werden.
Am Meer als Motiv interessierte Piayda der Umstand, dass es in seiner Räumlichkeit
und in seinem jahres- und tageszeitlich sowie meteorologisch bedingtem ständigen
Wandel nur in einer ihm nicht genügenden Ausschnitthaftigkeit zu erfassen ist.
Um dem Meer als Gesamtheit besser entsprechen zu können, hat Sven Piayda es bei
einem Aufenthalt in den Niederlanden im Februar/März 2014 an drei aufeinander
folgenden Tagen in seinen verschiedenen Wetter- und Lichtstimmungen fotografiert.
Außerdem geht es ihm um die medial nicht darstellbare Weite des Meeres. Da eine
normale Fotografie sie nicht abzubilden vermag, hat er die Bilddaten zunächst
gestaucht und diese Stauchung wieder gedehnt. Herausgekommen sind dabei experimentelle
Arbeiten, die in ihrer strengen konstruktiven Meer-Horizont-Himmel-Zweiteilung
wirken wie Repros von Farbfeldmalerei.
Die Unmöglichkeit, Fotos vom Meer zu machen, vertieft Sven Piayda daneben durch
eine Klanginstallation im großen Galerieraum. Was man dort hört, erscheint wie
ein zu seinen Weltraumbildern "Past Present Future" und "Golden Record" passender
"Space Sound". In der Tat befindet sich auf den Voyager-Records unter den 19 Geräuschen
auch eine "Sphärenmusik", die, beruhend auf Johannes Keplers mathematischem Traktat
"Harmonices mundi", die Bewegungen der Planeten auf ihren Umlaufbahnen schildert.
Man könnte im Ausstellungsraum auch die 1914-1916 komponierte Orchestersuite "The
Planets" von Gustav Holst mit ihren monumentalen Klangeffekten abspielen. Auch
die lineare, soghafte, extrem minimalistische Klanginstallation von Sven Piayda
passt eigentlich kongenial zu den vier Bildern, doch ist sie "La Mer" betitelt
und weist somit in eine ganz andere Richtung. Sie schlägt nämlich eine Brücke
zur geschilderten Fotoserie "The Impossibility To Take Pictures Of The Sea" im
Keller. Den Eindruck des Meeres musikalisch zu schildern, hat Tradition. Ich nenne
nur die drei impressiven symphonischen Skizzen für Orchester "La Mer" von Claude
Debussy (1903-1905), die "Sea Symphony" von Ralph Vaughan Williams (1903-1909)
und die "Sea Interludes" zu der Oper "Peter Grimes" von Benjamin Britten (1945),
die - wie Piaydas maritime Fotos - verschiedene Meeresstimmungen, zugleich aber
auch die Seelenzustände des Protagonisten schildern. Piaydas Soundinstallation
"La Mer" (2013) liegt das berühmte französische Chanson "La mer" von Charles Trenet
aus dem Jahr 1946 zugrunde, das auch in zahlreichen Cover-Versionen bekannt wurde
und dessen Originalversion zu den Soundtracks zahlreicher Spielfilme zählt. Piayda
hat den Song quasi zum Informellen abstrahiert, denn durch eine Stauchung auf
zwei Sekunden und deren anschließende Dehnung auf eine Stunde ist weder Trenets
Stimme zu hören noch ein Wort zu vernehmen, sondern übrig geblieben ist - wie
bei den drei Fotografien der Serie "The Impossibility To Take Pictures Of The
Sea" - lediglich Textur. Nachdem ich nun die Intentionen und die daraus resultierende
Arbeitsweise von Sven Piayda an ausgewählten Beispielen ausführlicher behandelt
habe, möchte ich andere ausgestellte Werke mit nur kurzen Anmerkungen streifen.
Neben dem Raum mit den unendlichen Weiten des Alls führt ein Kabinettraum mit
schwarzweißen Videos und Fotos in die unmittelbare Nähe, denn zu den Dingen, die
einem passionierten Fotografen nahe sind, gehört unweigerlich die Kamera. Und
so lichtete Sven Piayda die tiefgezogenen Verpackungsschalen seiner Nikon D70
als pendanthafte Stillleben "Top" und "Bottom" (2013) ab. Der medienreflexive
Clou daran ist, dass er diese Trays genau mit jener Kamera fotografierte, die
von ihnen einst schützend umschlossen war. Und so sind diese beiden "Sketches"
gleich auch eine gute Gelegenheit, über Postiv und Negativ, Innen und Außen, Hülle
und Umhülltes, Anwesendes und Abwesendes, Sichtbares und Unsichtbares nachzudenken.
Und über Urbild und Abbild, denn die Bilder zeigen nicht nur den Verpackungsmüll,
sondern zugleich auch deren Spiegelbild.
Zu den aus realen Fragmenten kreierten scheinrealen und irrealen Bildwelten im
großen Kellerraum zählen auch die Fotografien "Herbarium Show" (2010) und "Steam
Process" (2011). Beide zeigen Ausstellungsräume oder Ausstellungssituationen von
Piayda-Shows, das heißt Interieurs mit seinen Arbeiten an den Wänden oder teilweise
sogar noch auf dem Boden, so als handle es sich um die Dokumentation eines Ausstellungsaufbaus.
Diese Ausstellungen gab es aber nie, sie sind gefakt, am Computer generiert. Auf
diese Weise könnte man sich auch eine imaginäre Retrospektive im Guggenheim Museum
selber basteln. Die auf beiden Bildern zu sehenden angeblich ausgestellten Werke
sind aber gleichwohl originale Piayda-Fotografien. Der Joker daran ist also, dass
reale Fotos von Sven Piayda innerbildlich virtuell ausgestellt sind und diese
virtuellen Ausstellungssituationen nunmehr wiederum real im Kunstverein Bochumer
Kulturrat ausgestellt sind. Es handelt sich also nicht um Ausstellungsfotos, sondern
um Fotos, die das Ausstellen zeigen. Und genau das ist der Punkt: Piayda geht
es um das Zeigen, um "show/time" eben.
Ein Einzelbild ist noch erwähnenswert: die Schwarzweiß-Fotografie "Collapse" (2013).
Sie zeigt einen gerade zusammenbrechenden hohen Turm aus Bauklötzen. Auch dieses
Foto ist nicht narrativ gemeint im Sinne von "da fallen in China Bauklötze um",
sondern es ist abermals ein visueller Impuls an das Rezeptionsverhalten des Betrachters.
Piayda regt uns an, Aspekte wie Zeitspanne, Zeitpunkt und "richtiger Moment" zu
reflektieren. Übergeordnetes Thema ist - wie etwa in der Pressefotografie - der
Moment des richtigen Fotos zum richtigen Zeitpunkt. Das ist ein schon alter, internationaler
Diskurs der bildenden Kunst, nämlich jener um den "prägnanten" Moment, den "moment
frappant", den "one instant of time". Im 17. Jahrhundert noch gänzlich unbekannt,
wurde das Thema um 1700 in der Medientheorie zu einem Dogma der Plastik und Malerei,
das in der Moderne aber wieder weitgehend an Bedeutung verlor, jedoch immer noch
zahlreiche Künstler beschäftigt. In seiner Schrift "Laokoon oder über die Grenzen
der Mahlerey und Poesie" aus dem Jahr 1766 deutschte Gotthold Ephraim Lessing
den "prägnanten Moment" zum "fruchtbaren Augenblick" ein. Am Beispiel der antiken
Laokoon-Gruppe beschrieb er diesen intendierten fruchtbaren Augenblick, da der
Künstler eine ganze Geschichte in einem einzigen Augenblick zusammengefasst habe,
der völlig ambivalent sei, denn der Kampf Laokoons und seiner beiden Söhne mit
zwei Schlangen ist hier weder gewonnen noch verloren, ihr bevorstehender Tod nicht
absehbar. Eine solche unabsehbare Ambivalenz kennzeichnet auch Piaydas doppelbödiges
Foto "Collapse", in der es nicht nur um den prägnanten Moment hinsichtlich des
Fallens der Bauklötze geht, sondern auch - aufgrund der zugleich abgebildeten
Studiosituation - um das Zeigen von Bildproduktion.
In der Serie "Endor
National Park" (2013) sind vier Waldinterieurs des Redwood Nationalparks in Kalifornien
mit ihren beeindruckenden Küstenmammutbäumen zu sehen. Weiten Kreisen bekannt
wurden diese höchsten Bäume der Erde als Drehort für den "Waldmond von Endor"
aus der "Star Wars"-Episode VI: "Die Rückkehr der Jedi-Ritter". Letzteres spielt
aber gar keine Rolle, denn Sven Piayda geht es um etwas ganz anderes. Diese Bilder
stammen ursprünglich nicht von ihm; vielmehr handelt es sich um frei verfüg- und
verwendbare Farbfotografien aus dem Web. Sein Part besteht hier "nur" in der quasi
mechanischen Umwandlung in Schwarzweiß und in einen anderen Bildzuschnitt. Das
klingt unspektakulär, doch wirft Piayda mit diesem Verfahren theoretische Fragen
auf über Autorenschaft und den Eigenanteil an Originalität, über Urzustand und
Bearbeitung sowie abermals über die Mechanismen der Bildproduktion.
Nun habe ich mich in meiner Einführung zur weltweit bisher größten Piayda-Show
ganz auf die Fotografien konzentriert. Natürlich gibt es hier auch Filmisches
zu sehen, und das nicht zu knapp. Auf Monitoren sowie an die Wand gebeamt sind
37 Videos präsent; wenn man sie alle anschaut, hat man allein mit ihnen locker
eineinhalb Stunden zu tun. Auch darin behandelt Sven Piayda die ihn immer umtreibende
Hauptfrage nach der "Begrenztheit des Mediums" sowie vielfältige andere medienreflexive
Aspekte wie das Konservieren und das Auslöschen. Ich greife zum Abschluss paradigmatisch
nur ein einziges Beispiel heraus: unseren kleinsten Kellerraum mit den auf zwei
Monitoren einander gegenüber gestellten und formal aufeinander bezogenen Videos
"Roses (After Richter)" (2010) und "Big Pollution" (2010). Die Arbeit "Roses (After
Richter)" zählt zur tradierten Auseinandersetzung mit künstlerischen Vorbildern
respektive Vor-Bildern. Uli Bohnen hat 1988/89 zu diesem Thema eine spannende
Wanderausstellung namens "Hommage - Demontage" gemacht. Piayda bezieht sich auf
ein kleines Ölgemälde von Gerhard Richter mit dem Titel "Rosen", das 1994 entstand.
Es zeigt einen Strauß gelber Rosen in einer Glasvase und zählt zu jenen realistischen
Werken Richters, die nach einer fotografischen Vorlage entstanden und die eine
verwischt erscheinende Unschärfe charakterisiert. Sven Piayda hat einen dem Richter'schen
Gemälde ähnlichen Rosenstrauß real nachempfunden, fotografiert und digital bearbeitet.
Entstanden ist eine Stillleben-Fotografie, die aber aufgrund ihres Zeigens, der
"show/time", wie ein Video anmutet, also zeitlich, wenngleich ja hinsichtlich
einer Handlung gar nichts passiert, nichts passieren kann. Doch so wie Richter
ein Urbild in seinem Nachbild verunklärte, so verliert Piaydas auf ein anderes
Medium übertragener, ohnehin schon unscharfer und krisseliger "Nachbau" auch noch
zunehmend an Bildqualität, wird gelegentlich durch Bildstörungen beeinträchtigt
und scheint alsbald seinen Geist aufzugeben, wie eine alte Videokassette. Piayda
interessiert hier der Begriff der "Oberfläche": das Schöne ist diffus "verwaschen",
und nicht die virtuellen Blumen verwelken, sondern das Videoband als Medium, auf
dem sie gespeichert sind. Der andere Monitor des Raumes zeigt als Pendant etwas
zur Schönheit Diametrales, das aber in enger formaler Verwandtschaft zu der Vase
mit Blumenstrauß steht: eine Art Behältnis, dem in fließender Bewegung unaufhörlich
etwas Qualmwolkiges bedrohlich düster entströmt: Vorbild des digital generierten
Videos war ein historisches Ereignis des Jahres 2010, als eine Rohölfontäne ungebremst
in den Golf von Mexiko strömte.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, in Ansätzen deutlich zu machen, worauf es Sven
Piayda ankommt. Trotz der immensen thematischen Spannweite konfrontiert er die
Betrachter immer mit der Frage, was Bilder überhaupt zeigen können, wie wichtig
oder wie unwichtig das Gezeigte und wie doppelbödig die Zeigepraxis ist, wie man
in den Bildraum interveniert, wie der Zeitfluss die Dinge verändert, wie Medien
- zum Beispiel die Videokassette oder die Schallplatte - auftauchen und wieder
verschwinden. Ob dem Abgebildeten zu trauen ist, das fragt sich Sven Piayda immerfort,
und er reicht diese Fragestellung an den Betrachter seiner Werke weiter.
Carsten Roth M.A. Kurator Kunstverein Bochumer Kulturrat
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