Heterogenität im Kunstunterricht
Lynn Vitz im Gespräch mit Sven Piayda
for science survey
march 30, 2021 (in clologne)

 
 





Erinnern Sie sich noch an den Kunstunterricht in der Grundschule? 

Kaum.

Können Sie mir erzählen, an was Sie sich noch erinnern?
Ich erinnere mich an Wasserfarbe und Diskussionen Über Deckweiß, konkret an eine Reihe Über Kartoffeldruck. Ich habe mich bei der Lehrerin über die Verschwendung von Lebensmitteln beschwert.

Erinnern Sie sich denn an den Kunstunterricht in der weiterführenden Schule? Können Sie mir erzählen, an was Sie sich noch erinnern?
Auch hier viel Wasserfarbe und Deckweiß. Wir machten Kalligrafieübungen mit Füller und schwarzer Tinte, es gipfelte in einem Schildkrötenmotiv.

Wissen Sie, warum Ihnen genau diese Dinge in Erinnerung geblieben sind?
Obwohl ich schon immer eine Affinität zu Kunst hatte, empfand ich vieles als sinn- und witzlos. Die Lehrerin macht den Unterricht vertretungsweise und war wenig inspirierend. Kunst war damit neben Englisch das einzige Fach, in dem ich je eine 5 auf dem Zeugnis hatte. Oftmals waren es technische Übungen oder Stilkopien, Inhalt wurde kaum verhandelt.
Interessanterweise erinnere ich mich an den außerplanmäßigen Besuch einer Unterrichtsstunde eines neuen Lehrers, er hatte einen Zopf, was damals für einen Lehrer schon extrem wild war. In der Stunde zeigte er einen surrealen Film von Dali und analysierte ihn. Das hat mich nachhaltig angesprochen: Das Abseitige betrachten und die Intention herauslesen.  

Hat Sie der Kunstunterricht in irgendeiner Weise beeinflusst oder zu irgendetwas beigetragen? Wenn ja, inwiefern?
Speziell diese eine Unterrichtsstunde im Schatten vieler anderer hat mir gezeigt, dass es nichts mit Kunst zu tun hat, einfach Pigmente auf einem Untergrund zu verteilen. Es geht eher darum, eine Intention zu verfolgen und sie in ein Medium zu übertragen.
Ich glaube, man hat es bei mir versäumt, mich für die Magie und Kraft von Kunst zu sensibilisieren, das musste also woanders stattfinden. Leider sehe ich meine schulische Sozialisation in puncto Kunst auch bei Akademieabsolventen, die immer noch glauben, dass das reine Tun ausreicht.

Vielleicht auch hinsichtlich Ihrer Wahrnehmung oder Persönlichkeit?
Ich habe gelernt, erst genau hinzusehen und daraus die Intention zu lesen. Diese Herangehensweise wurde bei mir auch durch Religion und ein Linguistikstudium geschult, wurde dann aber durch Kunst aufgegriffen und weitergetragen.

Inwiefern spiegeln sich diese Veränderungen in Ihrem heutigen Denken und Handeln wider?
Ich halte mich selbst in meinem Denken für empathisch, fair und liberal, ich habe ein Misstrauen dem Mainstream gegenüber und eine Faszination für Abseitiges. Gleichzeitig stelle ich aber auch Ansprüche an die Dinge, da sie sonst beliebig wären. Und ich versuche, meinen gestellten Ansprüchen selbst gerecht zu werden. Beliebigkeit ist das Gegenteil von Kunst.

Inwiefern beziehen Sie die Heterogenität der SuS in der Planung Ihres Unterrichts mit ein?

Eine Aufgabe muss idealerweise auf verschiedenen Ebenen zu bewerkstelligen sein, als Minimallösung, als Ideallösung und als Reinterpretation. Dabei sollte der antizipierte Anspruch immer etwas über dem bereits Gekonnten oder Bekannten liegen.

Worauf legen Sie bei Ihrer Arbeit bzw. in Ihrem Unterricht am meisten Wert?
Natürlich zielt Unterricht primär auf die Vermittlung technischer Kompetenzen ab, mir geht es auch um die Persönlichkeitsentwicklung, um Fähigkeit zur Faszination sowie Reflexion und auch Spaß.
Schule will und soll keine roboterhaften Fachidioten produzieren, sondern reflektierte und eigenverantwortliche Menschen. Diese Menschen sollen im besten Falle auch mit sich selbst klarkommen. Ich habe in den letzten Jahren auch eher beiläufig Schüler an Kunst herangeführt, dessen fachlicher Schwerpunkt nichts mit Kunst oder Gestaltung zu tun hatte. Beim Wiedersehen mit Schülerinnen, die bereits ein Grafikstudium abgeschlossen hatten, war ich verblüfft festzustellen, dass sie wesentlich stärker von mir geprägt waren, als ich dachte. Der Einfluss (und die damit verbundene Verantwortung) von Lehrerinnen und Lehrern ist wesentlich massiver als oftmals angenommen wird.

Wie fördern Sie die Erfüllung dieser Werte bzw. inwiefern tragen Sie dazu bei?

Ich versuche stets, die individuellen Eigenheiten und Fähigkeiten zu fördern und sie gleichzeitig mit Bekanntem aus der Kunstgeschichte zu konterkarieren. Ein Gestalter oder Künstler der Postmoderne steht zwangsläufig im Schatten seiner Vorgänger, ihm bleibt nur Adaption und Remix. Man muss die Möglichkeit haben, sich zu inspirieren oder auch abzugrenzen, also sich selbst zu reflektieren und zu definieren. Ich finde es eher peinlich, sich als innovativ und genial zu empfinden, nur weil man die letzten tausend Jahre Menschheitsgeschichte ignoriert.
Ich bin durchaus bekannt dafür abzuschweifen, allerdings nicht, weil ich unkonzentriert arbeite, sondern weil ich stets größere Zusammenhänge und übergreifende Prinzipien transparent machen will. Kunst ist immerhin das Werkzeug, mit dem wir eine überbordende Welt gedanklich verhandeln können.

Wie kann die Heterogenität im Kunstunterricht in Zukunft besser beachtet und so die Identitätsbildung der Schükerinnen ind Schüler optimal gefördert werden?

Jede Gruppe von Lernenden ist per se heterogen. Was sie verbinden muss, ist ein transparenter und für alle geltender Standard bezüglich einer zu erwartenden Leistung. Heterogenität soll durch unterschiedliche Methoden der Differenzierung beantwortet werden. Parallel dazu muss eine Identitäsbildung stattfinden. Was widersprüchlich klingt, soll zusammen gelingen, denn es ist beides gleichwertig.
Die Zukunft hält hier wenig Neues bereit, auch digitale Medien halte ich in dem Kontext für überbewertet und teilweise für kontraproduktiv. Ich glaube, dass der gute Umgang mit Heterogenität stark von der Sensibilität und Kreativität der Lehrkraft abhängt.
Niemand hat gesagt, es wäre einfach.

Vielen Dank für Ihre Antworten!