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AESTATE | CARBONIZED
(Zany Music, 2011)
AESTATE, das ambitionierte Electro-Duo, dessen experimentelle Musik man lieber
selber anhören sollte statt darüber eine Kritik zu lesen, hat nun nach
langer Wartezeit, die aber mit vielen fanfreundlichen Veröffentlichungen
wie Gratis-EPs und Remix-Alben elegant überbrückt wurde, ihr drittes Album
CARBONIZED veröffentlicht. Im Nachfolgenden werden die fast 80 Minuten
Spielzeit Track by Track besprochen.
CARBONIZED beginnt etwas unglücklich und wenig repräsentativ mit dem schwächsten
Track der Platte. Yatec erschwert dem Hörer den Zugang mit einem sperrigen,
sehr unruhigen Rhythmus und einer fast penetranten Monotonie. Auch nach
mehrfachen Durchhören bleibt der Track durch seiner zu verspielten Experimentierfreude
verschlossen. Das nachfolgende Synfex gibt zunächst wenig Hoffnung auf
Besserung, da es klanglich konsequent den Weg von Track 01 fortführt.
Doch Ausdauer wird belohnt, nach gut vier Minuten entwickelt sich ein
völlig neues, sehr sphärisches Lied im Lied. Als müsste sich die Harmonie
zu Beginn zuerst aus einem Kokon wilder Geräusche herausschälen, baut
der entspannte Part gekonnt Neugier auf. Clapper, erstes Highlight der
Platte, pumpt dann mit kräftigen Beats vorwärts und punktet mit düsterer
Atmosphäre. Ein dichter und zugleich beklemmender Klangteppich bindet
nun endgültig die Aufmerksamkeit des Zuhörers an CARBONIZED. Trotz der
stolzen Lauflänge von über 12 Minuten flaut Clapper nicht ab, im Gegenteil,
es erfindet sich über mehrere Phasen immer wieder neu und bildet trotzdem
ein einheitliches Kunststück. Klang Clapper noch nach Film Noir, so könnte
Sybel mit dessen Fiepsen direkt aus dem Innenleben eines Computers stammen.
Es knarzt, flirrt und rauscht an allen Ecken und Enden, ein Genuss über
Kopfhörer zu hören. Insgesamt ein kurzweiliger Track und passende Brücke
zu Sr Stz. Dieses ist der, und das bitte nicht negativ auffassen, poppigste
Track der Platte. Clubtauglich, elektrisierend mit einer Ohrwurmmelodie
die sich ins Hirn brennt. Dazu ein treibender Beat, bei dem kein Fuß nicht
mitwippen kann. Kurz: ein absolutes Brett! Auch dieser Track erhebt sich
wie fast jeder andere auf CARBONIZED zwischenzeitlich auf ein nächstes
Level. Nach einer kurzen Bridge zum Luftholen gibt Sr Stz erst richtig
Gas. Mit einem dreckigen, eingängigen Synthie bleibt das hohe Niveau und
die Spannung erhalten, bis überraschend ‚schon‘ nach zehn Minuten das
Tempo mit der nächsten Nummer Femdrochine gedrosselt wird. Wieder wird
ein cheesy Klangkosmos erschaffen, nun mit gefälligen Trip Hop-Elementen.
Es ist ohnehin beachtenswert, wie zahlreich verschiedene Musikstile innerhalb
der Songs von CARBONIZED verbacken werden. Genregrenzen werden völlig
ausgehebelt, was natürlich aber auch einiges vom Hörer abverlangt. Leider
werden vermutlich viele schlichtweg überfordert sein oder nicht die Geduld
aufbringen, die das Erforschen einer Platte wie CARBONIZED oder dessen
Vorgänger voraussetzt. Hat sich das Album einem aber erst einmal erschlossen,
bemerkt man, wie erschreckend begrenzt manche Lieder im direkten Vergleich
klingen. Einziger Makel an Femdrochine wäre, es ist ein Tick zu lang.
Gegen Ende gelingt es dem düsteren Wabern nicht ganz die Aufmerksamkeit
konstant aufrecht zu halten. Dafür kehrt sie bei Pmaa Carth, dem kürzesten
Lied des Albums, das immer noch doppelt so lang wie ein Standard Radiosong
ist, sofort zurück. Trotz eines verblüffenden Klangexperiments fehlt dem
Stück aber noch ein gewisser Aha-Effekt, wie man ihn auf den Album ansonsten
so häufig findet, so dass es ‚nur‘ ein gutes ist. Deutlich stärker fällt
The Dog Circuit aus, Abschluss des Albums. Heiterer als zuvor fiept und
brummt es hier ein letztes mal in einem sehr detailverliebten und harmonischen
Track. Er fasst spielend die Stärken von CARBONIZED zusammen, filigrane,
teils befremdliche, teils eingängige aber immer homogene Klangkonstrukte
jenseits des Mainstreams, die nie stur in einer Struktur verharren sondern
ständig Metamorphosen durchleben ohne fremd zu wirken. Fast schon mit
einem Augenzwinkern will The Dog Circuit überhaupt nicht enden. Mit einem
noisigen Outro, bei dem immer, auch wenn man glaubt, nun ist es vorbei,
noch mehrere Minuten vergehen bis der letzte Ton dann doch plötzlich unerwartet
verhallt. Absolut passend!
Unterm Strich ist CARBONIZED nicht weniger als ein audiophiles Kunstwerk,
das aber trotz vieler schöner, eingängiger Momente erst erarbeitet werden
muss und für welches man sehr musikoffen sein sollte. Hat sich die Platte
einem aber erst einmal geöffnet fällt die Belohnung umso größer aus.
AESTATE: CARBONIZED
www.aestate-online.com
Rezension von Kevin Winterberg
kevin winterberg
digitalkunstrasen.net
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