intro / cassetto / electric unity
collected reviews on the 2007 debut by
AESTATE
 
  Aestate Aestate
CD / Zany Music / www.aestate-online.com

Aestate. Klingt nach einer fast schon Mouse-On-Mars’schen Wortkreuzung aus Ästhetik, Status, italienischem Sommer und Großgrundbesitz. Tatsächlich scheinen die Mathematiker der harschen Elektronik wie eben MOM oder Autechre auch nur einen Algorithmus weit entfernt zu sein von Aestates knirschenden und kratzenden Ungetümen aus Sound. Auf ihrem Aestate-Debütalbum zerbröseln Chris Huff und Sven Piayda aus Essen ihr Klangmaterial bis in die letzten Bits und sammeln die Splitter mit mehrfach verschachtelten Random-Filtern wieder ein. Das Resultat klingt ziemlich groß und düster – man fragt sich bloß, was unterwegs mit dem italienischen Sommer passiert sein mag.
http://www.intro.de/platten/heimspiel/23040842

Aestate - Aestate (Zany Music)
Wie kinderleicht könnte doch eine Plattenbesprechung sein: Man nehme die assoziativen Begleiterscheinungen von Bandname, Albumcover und Songtiteln, stelle einige Bezüge zur Herkunft der Künstler her, öffne hier und da ein paar Schubladen, garniere das Ganze mit handelsüblichen Musikschreiberfloskeln und fertig ist die Kaufempfehlung. Tja, wenn es doch nur immer so unkompliziert wäre... wenn es da nicht diese avantgardistischen Querulanten gäbe, die sich das Ziel gesetzt haben, der hassgeliebten Schreiberzunft einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen zu müssen. Rollen wir das Malheur also von Anfang an auf: Das Debutalbum von Aestate bietet 9 Tracks und 79 Minuten Spielzeit (so scheint postmoderner Maximalismus heutzutage also zu funktionieren). Mit Lokalbezügen kann man dem Essener Duo Piayda und Huff wohl kaum zu Leibe rücken. Ihr Schaffen als posttraumatische Bewältigungsarbeit am Niedergang der Industriehochburg Ruhrgebiet zu deuten, wäre trotz einiger klanglicher Assonanzen vielleicht doch zu weit hergeholt. Stilistisch stellen sie ohnehin eine Lichtung in den metallischen Gitarrenwäldern dieser Region dar; auch der Blick nach England oder Übersee stiftet nach anfänglicher Kategorisierungshilfe lediglich Verwirrung. Britischen IDM der Bauart Autechre oder Boards Of Canada haben die beiden Tüftler anscheinend schon mit der Muttermilch aufgesogen. Dennoch wird auch ebenso schnell deutlich, dass es Aestate weder um die drollige Algorithmenbeschau der einen, noch um die kühlen Downbeat-Alabaster zweitgenannter, sondern höchstens um die Aufhebung (ganz im dialektischen Sinne) oder die Amalgamierung beider Modi geht kann. Eine simple Methode offenbart sich nämlich auch nach mehreren Hördurchgängen nicht. Bis es einem irgendwann wie Schuppen von den Augen fällt: Genau das ist nämlich die Methode von Aestate. Sie bauen Erwartungen auf, stellen Bezüge her, verweigern sich diesen im nächsten Moment aber wieder rigoros. Bei einigen Tracks entsteht gar der Eindruck, dass es sich um akustische Kondensationen von fünf oder sechs Stücken handelt. Apokalyptische Industrialbollwerke fließen hier von einer Sekunde auf die andere in wunderbar elegische Symphonien, beide gehen kurzzeitig sogar Hand in Hand miteinander, absorbieren sich schlussendlich aber doch auf fulminante Weise (nein, nach happy-endings klingen Aestate wahrlich nicht...). Kryptische, knochentrockene Beat-Knuspereien reiben sich an kindlichen Melodien und verformen sich ebenso unerwartet zu sphärischen Science-Fiction-Soundtracks. Und wenn sie den fallout überlebt haben, funkeln in diesem digitalen Nirvana sogar gelegentlich die verwesten Überreste von Popmusik auf. Diese unglaubliche Dichte erzeugt ein Höchstmaß an Reibung und wer in diesem Zusammenhang über Langeweile klagt, der scheint an Hyperaktivität oder deutlich größeren gesundheitlichen Problemen zu leiden. Von übermäßiger Heterogenität oder gar Beliebigkeit zu sprechen, macht ebenso wenig Sinn, denn bei Aestate vollendet sich das Konzept eben erst dadurch zu einem Gesamtkunstwerk, dass es an so vielen Stellen ausfranst und zu Zersplitterung tendiert. Dies wird nicht nur auf klanglicher Ebene sondern ebenso mit Blick auf Albumgestaltung und, noch stärker, bezüglich der Tracktitel deutlich. Deren teils krude Semantiken entbehren konsequent jeglicher alltagsweltlicher Ankoppelungsmöglichkeiten. So paradox es nun auch klingen mag: Genau diese zahlreichen Momente der Ungreifbarkeit stellen überhaupt erst potentielle Bezugsrahmen für das Werk in seiner Gänze her, so unterschiedlich diese auch von Hörer zu Hörer - sofern sie denn als Grundvoraussetzung eine Menge Aufmerksamkeit und Geduld mitbringen - ausfallen mögen. Was also nach vermeintlicher Schwäche aussieht, entspricht erneut dessen Gegenteil: Abseits kalkulierter Zielgruppenorientierung lässt Aestates Vielgesichtigkeit dem Hörer einen immens großen Spielraum für eine schier unendliche Fülle von Anschlusswelten verschiedenster Art. Insofern ist das Debütalbum von Album zwar von herausfordernder Epochalität und man hat nicht selten den Eindruck, dass der Hörer derartiger Musik erst noch erfunden werden muss, doch auf der anderen Seite ist das Ganze auch eine höchst aufregende und lohnenswerte Einladung, diese faszinierende (Selbst-)Erfahrung zu machen.
http://www.cassetto.de/ (previously unreleased)

AESTATE „Die Platte hängt!“
Das ist das Zitat eines Partygastes während eines Tracks von AESTATE. Nun könnte man dies tatsächlich an einigen Stellen vermuten – aber wenn man sich die Mühe macht, genau hinzuhören, wird man feststellen, dass die Platte keinesfalls hängt. Es sind kleine Variationen, die an diesen Stellen den Rhythmus bestimmen. Ansonsten kommen bei dem Debüt-Album von AESTATE die absurdesten Assoziationen in den Sinn: Jede Menge wilde Tiere, kleinen Insekten flippern im Tropenhaus und Aliens spielen PingPong im All. Es knirscht und klopft, bimmelt und bammelt, stolpert, piepst und brummt – uncharmant ausgedrückt. AESTATE machen nun mal keine Musik, die man so nebenbei beim Putzen oder kochen laufen lassen kann. Das, was man da hört, ist wie ein komplexes Kunstwerk – ein Ganzes dissoziiert in seine Einzelteile, Fremdes gesellt sich hinzu, nimmt manchmal den ganzen Raum ein und schließlich setzen sich die einzelnen Bausteine neu zusammen. Man muss sich Zeit nehmen und sich darauf einlassen, aber dann ergeben sich Perspektiven, die eine andere Welt öffnen. Wie bei peel aest, wo sich über feine, helle, fast schon süße Klänge, die eine Geschichte aus einer entfernten Sphäre zu erzählen scheinen, ein wummernder Rhythmus schiebt, der nach und nach immer mehr Raum einnimmt. Doch auch dieser wird verdrängt und alles wird langsamer, bis nur noch einige sphärische Klänge übrig bleiben, mit denen man im All schwebend zurück gelassen wird. Ganz anders bei ipx enna oprat beet, das nach einem häufig veränderten, aber recht leichtem, manchmal fast poppigen Sound, sehr brachial endet, dass einem angst und bange werden kann. Beunruhigend wirkt trkbet - da werden Kindheitserinnerungen an jene alte Fernsehserie „Die dreibeinigen Herrscher“ wach. bocpatch hellway – ein fließender Track, der nicht so sehr von der Metamorphose in etwas Neues lebt, sondern eher von der Variation eines Themas, dem immer neue Aspekte hinzugefügt werden. Dieser Track lädt ein zum Chillen am Meer, sanft, hell und luftig. Und bei allem anderen heißt es weiterhin: sich darauf einlassen und genau hinhören! Dann wird man damit belohnt, immer wieder Neues zu entdecken und erstaunt sein, wie sich die manchmal bizarren Tracks verändern, nachdem man sie mehr als einmal gehört hat. Und wer weiß, vielleicht kommt man nach einigem intensiven Hören ja auch ganz selbstverständlich dem Geheimnis der unaussprechlichen Titel auf die Spur …
http://www.electric-unity.com/de/aestate.html